Neuauszählung der Wahl?Showdown für das BSW - und für den Bundestag
Hubertus Volmer
Seit Monaten kämpft das Bündnis Sahra Wagenknecht darum, dass die Bundestagswahl vom vergangenen Februar neu ausgezählt wird. Allgemein wird erwartet, dass eine Entscheidung bald fällt. Allerdings haben Medien die nächste Sitzung des zuständigen Gremiums schon mehrfach angekündigt. Stattgefunden hat sie bislang nicht.
Das Thema ist ein bisschen unübersichtlich: Hat das BSW eine Chance auf eine Neuauszählung? Existieren die Stimmzettel überhaupt noch? Ist es realistisch, dass eine Neuauszählung die Partei über die Fünfprozenthürde hievt? Und wird die Entscheidung vom Bundestag verschleppt? Hier die Antworten.
Wie laufen Beschwerden über Wahlergebnisse in Deutschland ab?
Zuständig für Wahlprüfungen ist in Deutschland ein Gremium des Bundestags, der Wahlprüfungsausschuss. Ganz unproblematisch ist diese Konstruktion nicht, denn im Zweifel muss das Parlament über seine eigene Zusammensetzung entscheiden.
"Ich finde das sogar hochproblematisch", sagt der Wahlrechtsexperte Wilko Zicht, Mitbegründer der Plattform Wahlrecht.de. Erklärbar sei diese Konstruktion nur historisch. "Das stammt noch aus der Weimarer Republik: Man wollte nicht, dass kaisertreue Richter demokratischen Abgeordneten das Mandat aberkennen können."
Wenn der Wahlprüfungsausschuss einen Einspruch zurückweist, gibt es noch die Möglichkeit einer Klage beim Bundesverfassungsgericht. Dazu später mehr.
Wie arbeitet der Wahlprüfungsausschuss?
Der Wahlprüfungsausschuss hat neun Mitglieder, alle Fraktionen des Bundestags sind darin entsprechend ihrer Größe vertreten - wie in allen anderen Ausschüssen des Bundestags auch. Gegen die Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 gingen dort 1031 Einsprüche ein, darunter auch der des BSW. All diese Einsprüche werden in einem "gerichtsähnlichen Verfahren" bearbeitet, wie es aus dem Bundestag heißt. Am Ende beschließt der Ausschuss mit einfacher Mehrheit eine Empfehlung, über die das gesamte Parlament entscheidet, ebenfalls wie bei anderen Bundestagsausschüssen.
Gab es schon einmal eine Neuauszählung nach einer Bundestagswahl?
Eine bundesweite Neuauszählung einer Bundestagswahl hat es noch nicht gegeben. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen gefällt, die mit dem Thema zu tun haben, etwa zum Fall einer Neuauszählung in einem Wahlkreis bei einer Landtagswahl in NRW 1990.
Auf dieses und andere Urteile beruft sich das BSW, das sich auf einem Parteitag Anfang Dezember in "Bündnis Soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftliche Vernunft" umbenennen will. Denn bei seiner Entscheidung von 1991 habe das Bundesverfassungsgericht zwar gesagt, ein knappes Ergebnis rechtfertige keine Neuauszählung. Dies gelte jedoch nicht, wenn der Wahleinspruch "substantiiert" - also gut begründet - sei.
Gibt es denn diese substantiierte Begründung?
Es gab zwischen dem vorläufigen Ergebnis und dem amtlichen Endergebnis tatsächlich eine Auffälligkeit: Beim vorläufigen Ergebnis, das am frühen Morgen nach dem Wahltag verkündet wurde, kam das BSW auf 2.468.670 Stimmen, was 4,972 Prozent entspricht. Bis zum 14. März, als das amtliche Endergebnis verkündet wurde, kamen 4277 Stimmen hinzu, sodass die Partei 2.472.947 Stimmen beziehungsweise 4,981 Prozent erreichte. In diesem Stimmenzuwachs sieht das BSW ein Indiz - nicht das einzige - für Fehler bei der Auszählung.
Warum ist der Zuwachs der Stimmen ein Indiz für eine falsche Auszählung? Spricht das nicht eher dafür, dass eine falsche Auszählung korrigiert wurde?
Korrekturen zwischen dem vorläufigen und dem endgültigen Ergebnis sind nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist, dass eine kleine Partei so stark von den Korrekturen betroffen ist. Zum Vergleich: Bei der CDU war es eine Differenz von 1674 Stimmen. Die Fehlerquote war bei der CDU also deutlich niedriger als beim BSW, obwohl die CDU sehr viel mehr Stimmen bekommen hat.
Wie läuft die Prüfung zwischen dem vorläufigen und dem amtlichen Endergebnis ab?
"Die vorläufige Ergebnisdarstellung der Bundeswahlleiterin basiert auf den Schnellmeldungen, die in der Wahlnacht übermittelt und mit Stand 24.02.2025, 4.10 Uhr bekannt gemacht wurden", teilt die Behörde von Bundeswahlleiterin Ruth Brand in einer E-Mail an ntv.de mit. "Kleinere Abweichungen in den Ergebnissen nach oben oder unten sind auf die Prüfschritte anhand der Niederschriften, etwaige Nachzählungen und Korrekturen zurückzuführen. Diese treten bei jeder Wahl auf."
Am Wahlabend sollen die Wahlhelfer nach der ersten Auszählung eigentlich eine Kontrollzählung durchführen. "Aber es kommt vor, dass nur einmal gezählt wird", sagt Wahlrechtsexperte Zicht. "Wenn die Zahl der Häkchen im Wählerverzeichnis mit der Zahl der gezählten Stimmzettel übereinstimmt, dann sagen viele Wahlhelfer: Das Ergebnis nehmen wir."
In den Wochen nach der Wahl prüfen die Kreiswahlleitungen und Kreiswahlausschüsse die sogenannten Wahlniederschriften aus den Wahllokalen. Das sind Protokolle, in denen die Wahlhelfer beispielsweise besondere Vorkommnisse notieren. Verglichen wird auch, ob die Menge der gezählten Stimmen mit der Zahl der erschienenen Wählerinnen und Wähler übereinstimmt. "Wenn alles plausibel aussieht, gibt es keine Neuauszählung", sagt Zicht.
Es ist eine Ermessensentscheidung: "Eine generelle Verpflichtung zur Nachprüfung aller Beschlüsse auf Ordnungsmäßigkeit und Vollständigkeit sowie Plausibilität besteht nicht", teilt die Bundeswahlleiterin mit.
Und deshalb sind dem BSW Stimmen verlorengegangen?
So argumentiert die Partei. Einige Stimmen für das BSW seien bei der Auszählung dem "Bündnis Deutschland" zugerechnet worden - die Kleinstpartei stand auf dem Wahlzettel unmittelbar über dem BSW. Einen ähnlichen Fehler könnten theoretisch auch Wähler gemacht haben. Solche Stimmen könnten dem BSW natürlich nicht zugesprochen werden.
Aber das fordert die Partei auch nicht. Sie fordert eine Neuauszählung, weil sie davon ausgeht, dass ihr Stimmen nicht zugerechnet wurden, die bei genauerem Hinsehen klar als BSW-Stimmen erkennbar gewesen wären. Als Indiz verweist die Partei in einer Stellungnahme für den Wahlprüfungsausschuss darauf, dass es Wahlbezirke gebe, in denen das BSW "extremst wenige Stimmen" erhalten habe, während "die Splitterparteien Bündnis C und Bündnis Deutschland extrem überproportional abgeschnitten haben".
"Bündnis Deutschland" erhielt im bundesweiten amtlichen Endergebnis übrigens 2640 Stimmen weniger als im vorläufigen Ergebnis - ebenfalls eine sehr hohe Differenz.
Das Endergebnis wurde also korrigiert - aber stimmt es auch?
"Die Kreiswahlleitungen und Kreiswahlausschüsse haben nach unseren Informationen die Eingaben der jeweiligen Landesverbände des BSW angemessen berücksichtigt", sagt die Bundeswahlleiterin dazu. "Weitere Überprüfungsmöglichkeiten, beispielsweise eine Nachzählung im Vorfeld des Wahlprüfungsverfahrens durch die Landeswahlleitungen, die Bundeswahlleiterin oder auf Veranlassung Dritter, sind wahlrechtlich nicht vorgesehen."
Und doch gibt es weiterhin Ungereimtheiten. Das BSW hat alle 299 Kreiswahlleitungen und alle Landeswahlleiter angeschrieben und gefragt, in welchen Wahlbezirken eine komplette Nachzählung stattgefunden habe. Geantwortet hat rund die Hälfte der Kreiswahlleiter. "Aus den Antworten ergab sich eine Stichprobe von 50 Nachzählungen mit insgesamt zusätzlich 15 Stimmen für das BSW", sagt der designierte BSW-Vorsitzende Fabio De Masi ntv.de. "Umgerechnet wäre das eine Stimme in jedem dritten Wahllokal."
In seinem Einspruch beim Wahlprüfungsausschuss rechnet das BSW diese 15 Stimmen in 50 Wahlbezirken hoch und kommt so auf zusätzlich 28.533 BSW-Stimmen.
Wilko Zicht nimmt dagegen an, dass "das wesentliche Korrekturpotenzial" für das BSW bereits größtenteils erschöpft ist. Denn die vom BSW hochgerechnete Stichprobe sei nicht nach dem Zufallsprinzip entstanden, sondern bestehe aus Wahllokalen, in denen die Wahlleiter unplausible BSW-Ergebnisse vorgefunden und durch Nachzählungen korrigiert hätten. "Die Zahl von rund 30.000 Stimmen, mit der die ganze Rechnung steht und fällt, ist nicht realistisch", so Zicht.
Dem wiederum widerspricht De Masi: Von außen erkennbare Anomalien habe es in den Wahllokalen der Stichprobe nicht gegeben. Auch seien alle Nachzählungen aussortiert worden, die mit dem BSW in Verbindung standen - etwa, wenn eine Nachzählung stattfand, weil das "Bündnis Deutschland" viele und das BSW wenige Stimmen hatte.
Wie viele Stimmen benötigt das BSW, um die Fünfprozenthürde zu überspringen?
Nach dem amtlichen Endergebnis fehlen dem BSW 0,019 Prozent - das sind rund 9500 Stimmen, genau: 9529 Kreuze auf dem Wahlzettel. "Um die Fünfprozenthürde zu überspringen, würde uns schon eine Stimme mehr in jedem zehnten Wahllokal reichen", sagt De Masi.
Sind die Stimmzettel überhaupt noch vorhanden?
Die Stimmzettel der Bundestagswahl werden "nach Abschluss der Wahl vom Wahlvorstand verpackt und geordnet", teilt die Bundeswahlleiterin mit. "Diese Pakete werden versiegelt und mit einer Inhaltsangabe versehen." Gelagert werden die Pakete von der zuständigen Gemeindebehörde. Diese habe sicherzustellen, dass die Pakete Unbefugten nicht zugänglich sind.
Grundsätzlich könnten die Stimmzettel 60 Tage vor der Wahl des neuen Deutschen Bundestages vernichtet werden. "Die Landeswahlleitung kann zulassen, dass die Unterlagen früher vernichtet werden, soweit sie nicht für ein schwebendes Wahlprüfungsverfahren oder für die Strafverfolgungsbehörde zur Ermittlung einer Wahlstraftat von Bedeutung sein können. Die derzeit schwebenden Wahlprüfungsverfahren zur Bundestagswahl 2025 stehen einer vorzeitigen Vernichtungsanordnung der Stimmzettel durch die Landeswahlleitungen entgegen."
Heißt: Alle Stimmzettel müssten noch vorhanden sein. Eine Großstadt in Nordrhein-Westfalen etwa teilt auf Anfrage von ntv.de mit, ihre Stimmzettel lagerten "an einem Ort, der den Maßstäben von Datenschutz und besonderer Vorkehrung gegen unbefugten Zugriff sowie schädigende Umwelteinflüsse genügt".
Aber: "In der Praxis liegen die Stimmzettel häufig in einem Kreisverwaltungsamt und sind für eine ganze Reihe von Mitarbeitern zugänglich", sagt Zicht. "Sollte ein Akteur wie Russland es darauf anlegen, maximale Unruhe in das politische System der Bundesrepublik zu bringen, dann wäre es durchaus möglich, hier ein paar Stimmzettel auszutauschen."
Man könnte hier einwenden, dass der Experte befangen ist: Wilko Zicht arbeitet nicht nur für Wahlrecht.de, sondern auch als Referent für die Grünen in der Bremer Bürgerschaft. Aber Zicht sagt auch: "Man hätte direkt nach dem Wahltermin eine komplette Neuauszählung machen sollen." Nur jetzt sei es für ein verlässliches Ergebnis wohl zu spät. Diese Einschätzung dürfte in jedem Fall gelten - mit oder ohne Nachzählung.
Was passiert, wenn der Wahlprüfungsausschuss die Beschwerde des BSW zurückweist?
"Dann gehen wir nach Karlsruhe, das ist sicher wie das Amen in der Kirche", sagt De Masi. "Wir sind zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht weniger befangen agieren wird als der Wahlprüfungsausschuss."
Zwei Organklagen des BSW wurden im Mai von den Karlsruher Richtern verworfen. Das bedeutet nicht, dass eine weitere Klage des BSW gegen eine Entscheidung des Wahlprüfungsausschusses zwangsläufig erfolglos wäre, im Gegenteil: In der Urteilsbegründung findet das BSW Anhaltspunkte, die es hoffnungsvoll stimmen. So urteilten die Richter etwa, der Deutsche Bundestag müsse "in angemessener Frist" über den Wahleinspruch entscheiden, damit nicht "die Gefahr besteht, dass das Wahlprüfungsbeschwerdeverfahren nicht mehr zeit- oder sachgerecht durchgeführt werden könnte".
Apropos: Hat der Wahlprüfungsausschuss die Entscheidung verzögert?
Der Bundestag sagt Nein, der Ausschussvorsitzende Macit Karaahmetoğlu von der SPD bestreitet das ebenfalls. Nach Einreichung des Einspruchs sei "unmittelbar mit der Aufklärung und Prüfung" begonnen worden, heißt es aus Karaahmetoğlus Büro auf Anfrage. "Der Vorwurf der Verzögerung des Verfahrens durch den Ausschussvorsitzenden entbehrt damit jeder Grundlage."
Das BSW sieht das naturgemäß anders. "Der Wahlprüfungsausschuss hat sich erst am 27. Juni konstituiert, mehr als einen Monat nach allen anderen ständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestags", sagt De Masi. "Ich glaube, der Ausschuss hat kein Interesse, den Vorgang zügig abzuschließen."
Würde das BSW denn das Ergebnis akzeptieren, wenn es auch nach einer Neuauszählung unter fünf Prozent bliebe?
"Ja", sagt De Masi. "Ich halte das zwar für unwahrscheinlich, aber es kann natürlich passieren."
Und schließlich: Wie würde es sich auswirken, wenn das BSW doch noch in den Bundestag einzieht?
Die Folge wäre eine schwere politische Krise, davon kann man ausgehen. Zunächst einmal würden einige Abgeordnete ihre Mandate verlieren, darunter nach einer Berechnung der "Augsburger Allgemeinen" auch Bundestagspräsidentin Julia Klöckner von der CDU.
Vor allem aber hätte die schwarz-rote Koalition keine Mehrheit mehr. Eine Möglichkeit wären Neuwahlen. Das BSW wäre dann unter Umständen noch immer nicht im Bundestag. Aber Union und SPD hätten nach den aktuellen Umfragen trotzdem keine Mehrheit. Die Koalition könnte daher als Minderheitsregierung weiterarbeiten, was ein Novum für die Bundesrepublik wäre. Oder Bundeskanzler Friedrich Merz könnte versuchen, die Grünen in die Koalition zu holen. Es wären ostdeutsche Verhältnisse im Bundestag: Die Opposition bestünde aus AfD, Linken und BSW.